10.01.2014

Exkurs: "Die Unschuld der Dinge"



Das Buch zum Museum
Zum Jahresbeginn ein kleiner Exkurs zur „Unschuld der Dinge“ – dem Buch zum Museum der Unschuld in Istanbul. Die Dinge und Erzählungen im Museum spiegeln fiktive Lebensgeschichten und Ereignisse wider, die im gleichnamigen Roman zum Leben erweckt wurden. Sowohl für Roman als auch Museum ist niemand geringeres verantwortlich als Nobelpreisträger Orhan Pamuk...
In 83 Vitrinen, Boxen und auf Treppenstufen (entsprechend den 83 Kapiteln des Romans) schildern Dinge aus der Sammlung des Schriftstellers bzw. seines Protagonisten Kemal Basmacɪ Lebensmomente der Romanfiguren. Trotz fiktiver Provenienz sind die Dinge selbst echt und wurden seit den 1980er Jahren in leidenschaftlichen Schatz-Suchen durch Istanbuls Straßen und Antiquitätenläden von Orhan Pamuk gesammelt. Er erfand zwar die Charaktere, doch da er ihre Geschichte „anhand echter Ausstellungsgegenstände in einem Museum erzählen sollte, würden die Museumsbesucher nach einer Weile begreifen, dass [sie] doch echt war.“
Um nach den Bildern im Ausstellungsbuch zu urteilen, scheint das Museum der Unschuld eines der am leidenschaftlichsten und am liebevollsten gestalteten Ausstellungen mit alltagskulturellem Bezug zu sein. Die äußerst detailreichen Vitrinen zeugen von einer anstrengenden und sorgfältigen Sammlungs- und Umsetzungsarbeit. Allein in Vitrine 68 befinden sich 4213 unterschiedlich geformte Zigarettenkippen zu denen Orhan Pamuk im Namen seines Helden diverse Bemerkungen notierte.
Abb. S. 228/229, Copyright: Hanser Verlag
Bei den Vitrinenüberschriften tritt Pamuks literarische Qualität besonders zu Tage. Einige sind nüchtern-museal wie man sie vielleicht aus anderen Ausstellungen gewohnt ist, wie etwa: „Die Straßen, Brücken und Plätze von Istanbul“ oder „Die erste türkische Fruchtlimonade“. Andere bewegen sich jenseits genormten musealen Textens und ziehen den Betrachter sofort in ihren Bann: „Der glücklichste Augenblick meines Lebens“; „Füsüns Tränen“; „Die Lichter der Stadt und das Glück“; oder „Auf die Lippen küssen“. Wer ist da nicht neugierig, mehr zu erfahren?
Darüber hinaus hat Orhan Pamuk ein „bescheidenes Museumsmanifest“ mit 11 Punkten verfasst, die folgender Maßen zusammengefasst werden können: Den großen, bombastischen Museen, die sich um Themen wie „Volk“, „Nation“, „Geschichte“ kümmern, sollte – auch in finanzieller Hinsicht – weniger Bedeutung zukommen. Stattdessen sollte der Fokus auf kleinere Häuser gerichtet werden, die sich mit dem Schicksal einzelner Menschen, mit dem Alltag auf den Straßen und in den Häusern vor Ort befassen.
Diese Abwendung vom konstruiert Epischen hin zum „echten“ Leben der „kleinen Leute“, vom Nationalen zum Regionalen mittels biografischen Ansatzes ist zwar nichts Neues in der Museumswelt, doch etwas, woran erinnert werden muss. Denn dies ist im Denken vieler Häuser oft nicht mehr als eine vorübergehende Modeerscheinung. Diese Kritik gilt generell an einer Herangehensweise, die eine Erscheinung nur zum Thema macht, weil es gerade Trend ist – nur um es später wieder mit einem abwinkenden Schmunzeln als „damals notwendig“ abzutun (wie etwa Frauengeschichte oder Migration) als ob wir von der Mode der 1980er Jahre sprechen würden.  
Ich schätze Orhan Pamuks Werke wie „Das Schwarze Buch“, „Schnee“ oder seine Erinnerungen an Istanbul. Ebenso würde ich mir vor Ort sofort das „Museum der Unschuld“ anschauen und mich in den Lebensskizzen genüsslich verlieren. Der Übergang von Realität zu Fiktion mag fließend sein. Dennoch stelle ich mir die Frage nach der Bedeutung eines ganzen Museums, das eine fiktive Erzählung entwirft. Andererseits: welche Abbildung der Wirklichkeit kommt ihr schon gleich?
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Orhan Pamuk: Die Unschuld der Dinge. Carl Hanser Verlag München 2012. 

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