11.07.2014

1914/2014 – zwei Weltkriegsausstellungen im Vergleich

zwei Soldaten an Fahne, Denkmäler, Gedenken, Gedenkstätte
Soldatendenkmal in der Ausstellung auf Zollverein

2014, das Jahr der Weltkriegsausstellungen. Allerorten finden sich Objekte aus der Zeit von 1914 bis 1918. Jedes Museum versucht sich an einer Ausstellung. Einige wenige ragen aus der Vielzahl von Sonderschauen heraus. "1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg" auf Zeche Zollverein in Essen und "Fastnacht der Hölle – Der erste Weltkrieg und die Sinne" im Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart bilden den Maßstab...
Zwei Ausstellungen, so unterschiedlich in ihrer inhaltlich konzeptionellen Annäherung an das Thema wie in ihrer gestalterischen Umsetzung. Beiden gemein, die Betonung der jeweiligen regionalen Spezifika.

In Stuttgart wird der Besucher zu Beginn mit all seinen Sinne abgeholt. An mehreren Stationen werden sensuelle Eindrücke aus der Zeit des 1. Weltkriegs nachgeahmt; so kann der Besucher beispielsweise synthetisch imitierten Geruch aus den Schützengräben inhalieren. Der zwangsläufigen Kritik an den "Sinnesstationen", wonach diese versuchen eine Wirklichkeit zu simulieren, die man nicht erfahrbar machen kann, teile ich nicht. Die Kuratoren behaupten nie, den Besucher in die Kriegsjahre versetzen zu wollen. Dagegen halte ich es für äußerst eindrucksvoll, einen Text über die Kälte in öffentlichen Gebäuden während der Kriegswinter zu lesen und gleichzeitig frierend unter einer auf 15° C heruntergekühlten Glocke zu stehen. Das Ansprechen der Sinne bildet leider nur das Intro, die weitere Ausstellung greift das Titelthema nur noch beiläufig auf – schade, der sensuelle Zugang ist ausgefallen, kreativ und ein Alleinstellungsmerkmal der Ausstellung in Stuttgart. Es ist außerdem eine gute Methode, um die Wirkung des Krieges auf das Individuum zu verdeutlichen.
Den Hauptteil der Wechselausstellung im Haus der Geschichte bilden drei mächtige Vitrinen mit den Themen Front, Etappe, Heimat. Düster wirkt es, dem Thema angemessen in Ausstellungs- und Feldgrau gehalten, mit Spots dramatisch inszenierte Exponate, die aufwendig montiert sind, reduzierter Einsatz von Grafik, das Bild wirkt komplett. Jede Vitrine bildet quasi eine Exponatlandschaft, die es im Rundgang zu entdecken und zu erfahren gilt. Die zahlreichen biografischen Textquellen wurden technisch aufwendig in Original und animierter Transkription in die Vitrinen respektive auf das Vitrinenglas projiziert. Toller Service für den Besucher, ein unglaublich angenehmes Lesevergnügen und ästhetisch höchst ansprechend; aber: die Projektionstechnik erfordert eine eigenwillige Konstruktion der Vitrinengläser, sie sind schräg eingesetzt und haben an der Oberkannte einen überstehenden Abschluss. Folge ist, nahezu jeder Besucher mit einer Körpergröße von mehr als 1,75 m muss sich in permanenter Bückhaltung den Vitrinen nähern, um hineinsehen und die Texte lesen zu können. Die "Autsch"- und "Mist"-Rufe in der Ausstellung zeigen, dass die einsetzende Genickstarre nach dem Ausstellungsrundgang häufig nicht der einzige Effekt der architektonisch verunglückten Konstruktion ist.
Nach dem Hauptteil verlässt der Besucher die Ausstellung entlang einer länglichen Standardvitrine, die den Epilog der Ausstellung bildet. In Ihr finden sich Fotos, Filme und Objekte, die die Folgen der Schlachten veranschaulichen. Sie zeugen von den Narben, die der Krieg an Mensch und Landschaft hinterlassen hat. Ein erwartbares Ende, das in Tradition der immer ähnlichen Struktur der Wechselausstellungen im Haus der Geschichte steht.

Wer auf Zollverein in der imposanten Mischanlage der ehemaligen Kokerei die Ausstellung betritt, auf den wartet ein Einstieg der besonderen Art. Da die Ausstellung auf mehreren Etagen von oben nach unten zu begehen ist, muss jeder Bescher zuerst auf das Dach. Dies geschieht mittels Standseilbahn – an Aufwand kaum zu toppen.
Reformbewegung, oberste Ebene, Standseilbahn, Prolog der Ausstellung
Eingangsbereich mit Utopien der Jahrhundertwende
Den Prolog auf Ebene 1 bildet eine Präsentation von Utopien aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Sie veranschaulichen die Begeisterung für Fortschritt, Technik und Moderne und bilden mit der zweiten Ausstellungsebene voller glänzender Objekte aus der Vorkriegszeit eine Verständnisgrundlage, um die großen Zusammenhänge und die Zeit besser verstehen zu können. Schon zu Beginn zeigt sich auch die Stärke – oder ist es eine Schwäche? – der Ausstellungslokalität. Das Industriegebäude zieht den Besucher in seinen Bann. Auch ohne die Ausstellung wären die Besucher von den Räumlichkeiten begeistert. Meist ergänzen sich Ausstellungsraum und Exponate ganz gut, oft treten die Objekte jedoch in den Hintergrund. Der Ort allein gibt schon die Struktur der Ausstellung vor: es muss gigantisch, mit Großobjekten, mit einer Masse an Exponaten und mit dramatischem Lichteinsatz gearbeitet werden. Eine dezentere Ausstellung wie die in Stuttgart, in der einzelne, oft unscheinbare und kleine Objekte in den Fokus genommen werden, würde das Gebäude verschlucken.
In der mittleren und aufgrund der Kohlebunkerlandschaft eindrucksvollsten Ebene findet sich der Hauptteil der Ausstellung, die Darstellung der Kriegsjahre. Der Besucher wird hier ganz klein ob der Dimension der Ausstellungsräume, der dramatischen Inszenierung mit Medieneinsatz und der schieren Macht einiger Exponate.
Ausstellungsende, Großfotografien
Epilog der Essener Ausstellung,
Ausblick auf NS-Zeit und nächsten Weltkrieg
Zum Epilog hin wird es wieder heller, freundlicher, weniger Furcht einflößend. Nach Darstellung der Nach- bzw. Zwischenkriegszeit schließt die Ausstellung mit einem Ausblick auf die Grauen, die 1933 ihren Anfang nahmen. Die Ausstellung hat damit einen sinnigen, wissenschaftlich konsequenten und umfassenden Rahmen. Es entsteht eine kausale Aneinanderreihung von Fortschrittsglauben, 1. Weltkrieg, Zwischenkriegszeit und der NS-Zeit. Hier wollten die Kuratoren viel – zu viel?
Auf Zollverein wird eine große, umfangreiche Geschichte erzählt, die vier Kriegsjahre sind dabei nur der größte Teilbereich. Die Herangehensweise wirkt ganz im Sinne der klassischen Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte, was aber kein Malus sein muss, sondern eine sehr fruchtbare, umfassende Perspektive, die auch dem Menschen im Großen seinen Platz zuspricht. Obwohl das Haus der Geschichte sehr viel biografischer und mit mikrohistorischem Blick für den Einzelnen arbeitet, schaffen die Ausstellungsmacher in Essen einen weiteren Kontext. Dadurch gelingt es ihnen, jenseits von singulären Einzelschicksalen die Lebensumstände der Menschen zu beschreiben oder ein Gefühl für deren Alltag zu vermitteln.
Zeche Zollverein
Das Treppenhaus der ehemaligen Kohlenmischanalge dient als riesiger,
geschickt inszenierter Ausstellungssaal 
Die Stuttgarter Ausstellung ist „soldatischer“, ebenso die Erzählperspektive. Aufgrund der begrenzteren Ausstellungsfläche und des kleiner angelegten Gesamtprojektes ist dies eine legitime Selektion. Es hat jedoch zur Konsequenz, dass der Bezugsrahmen, die größeren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Kriegsjahre auf der Strecke bleiben. In Essen merkt man, dass ein großes Thema mit einer großen Präsentation, vielen Exponaten, hohem Aufwand angegangen wurde. Das Wort „Blockbuster-Ausstellung“ kommt in den Sinn. Jeder, ob Laie oder Historiker, nimmt etwas aus dieser Ausstellung mit; auch wenn es bei der Ernsthaftigkeit des Themas etwas taktlos wirken mag: man fühlt sich gut unterhalten, alles wirkt spektakulär.
Auch in Stuttgart kommt der Besucher auf seine Kosten und vor allem museumsaffine Menschen werden die Art der Ausstellung interessant finden. Die Sonderschau in Stuttgart ist die modernere, in ihrer Gestaltung frisch, man merkt, dass sich im Haus der Geschichte Gedanken über moderne Ausstellung gemacht wird. Die Grundlage dieses Stils ist, dass die Einzelexponate gewürdigt werden und mit wenigen Stücken zu einem Thema visuell argumentiert wird. Wo in Essen dutzende Helme nebeneinander Hängen, reicht hier die Stahlschüssel mit Einschussloch von Ernst Jünger. In Stuttgart nimmt sich der Besucher Zeit, oft angeleitet durch intelligente Texte, entdeckt er feine Details an den Exponaten. Auf Zollverein kommt es hingegen vor, dass ein spannendes Objekt in seiner Vitrine auf Knöchelhöhe ausgestellt wird. Weniger wäre an diesen Stellen mehr. Gerade das Spiel zwischen Verdichtung mit vielen Objekten, um eine Aussage zu treffen und der Exponierung einzelner Highlights, die für sich sprechen, gilt es in Zukunft besser zu überdenken. Insgesamt wirkt die Ausstellungsgestaltung und Exponatauswahl im Haus der Geschichte durchdachter, auch wenn die Essener mit der unglaublichen Fülle an einzigartigen Schaustücken zu überzeugen wissen.
Die Kuratoren beider Häuser haben ihre Hausaufgaben gemacht; kritisiert wird hier auf höchstem Niveau. Beide Ausstellungen zeigen wie bunt und vielfältig Museum ist, haben sie doch jeweils einen unverkennbaren Stil und völlig unterschiedliche Zugänge zu ein und dem selben Thema.
    wohltätige Aktion in Krefeld von 1915 bis 1916
    Nagelfigur "Eiserner Georg"

  • Lieblingsexponat? – Im Haus der Geschichte ist es ein Stapel Briefe, der die gesamte Feldpost eines Soldaten und somit seine Verbindung in die Heimat eindrucksvoll darstellt.
    In Essen ein Objekt aus der Masse herauszuheben fällt schwer. Aus der Laune heraus entscheide ich mich für die Nagelfigur "Eiserner Georg", die von 1915 bis 1916 in Krefeld aufgestellt war.
  • Nachmachen! – In Stuttgart unbedingt die in die Vitrinen projizierten Texte.
    Auf Zollverein beeindruckt wie immer das Gesamterlebnis Museumsbesuch, vom Spaziergang auf dem ehemaligen Industriegelände, über die Fahrt mit der Standseilbahn, bis hin zum Abschluss im Café "Die Kokerei"
  • Wie hinkommen? – Das Haus der Geschichte liegt besucherfreundlich im Zentrum der Stadt. Um die Ausstellung in der Kokerei auf Zollverein zu finden, bedarf es einer gewissen Orientierungsgabe und einem längeren Fußmarsch über das Areal des Weltkulturerbes. 
  • Charme? – Im Haus der Geschichte herrscht eine dem Thema würdige Atmosphäre, gedämpft, man zeigt sich betroffen ob der Grauen des Krieges. Die Ausstellungsmacher haben Fingerspitzengefühl bewiesen und eine optimale Form gefunden, um das Thema mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Sensibilität darzustellen.
    Für einen Freund der Industriekultur übertrifft in Sachen Charme nichts das Gesamtkunstwerk Zeche Zollverein nebst Kokerei.  
  • Jahreskarte oder Tagesticket? – Die Ausstellung auf Zollverein sollte man zweimal besuchen, um auch Details der Exponate zu finden, die Inhalte erfassen und die Argumentation der Rauminszenierungen und Exponatarrangements begreifen zu können.
    Wer sich Zeit nimmt, kann in Stuttgart mit einem Besuch die gesamte Ausstellung en Detail erfassen. 
  • Was gibt’s noch? – Beide Häuser haben sehenswerte Dauerausstellungen.
Die Fotos in diesem Post stammen alle aus der Ausstellung auf Zollverein in Essen. Im Haus der Geschichte ist das Fotografieren verboten.

historische Fahrräder aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
Exponate wie diese Fahrräder visualisieren die Stimmung am Vorabend des 1. Weltkriegs
und den Glauben an die positive Wirkung des technischen Fortschritts.
Ausstellunsgvitrine der Welkriegsausstellung auf Zollverein in Essen
Reichlich Platz ermöglicht auf Zollverein abwechslungsreiche
und ästhetisch ansprechende Raumbilder
Fabrikgelände aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg


Förderband, Industriekultur, 1914 Mitten in Europa, das Rheinland und der erste Weltkrieg

1914 Mitten in Europa, das Rheinland und der erste Weltkrieg
Der Gang vorbei an Totentafeln; anregend und deprimierend

Waffen des Krieges
Ein tonnenschweres Feldgeschütz 
Equipment der Frontsoldaten
Vitrine mit Helmen und Ausrüstungsgegenständen der Soldaten

1920er Jahre

Kraftrad, Poster, Abstimmung, 1920er Jahre, 1930er, 20s

Treppengeländer im Industriedenkmal, 1920er Jahre, 1930er Jahre, Weimarer Republik, Sportplakat, Fußballplakat, Rheinland

Koffer, Zwischenkriegszeit
Die untere Ebene auf Zollverein behandelt die Zwischenkriegszeit;
Lichtstimmung und Raumgefühl heben sich klar von der bedrückenden
Düsternis der Kriegszeit ab.
Drehorgel aus der Zwischenkriegszeit, 1914 mitten in Europa, das Rheinland und der erste Weltkrieg
Im Hintergrund der Drehorgel das stilvolle Café & Restaurant "Die Kokerei" 

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