12.03.2015

Protest! | Stadtmuseum Tübingen

Protest – meist spontane und temperamentvolle Bekundung des Missfallens, der Ablehnung.

Bereits die Fassade ist bespielt


Protestieren in Berlin, in Bangkok, in Washington, ja. Aber im kleinen, friedlichen Tübingen? Auch das ging und geht, und wie, das zeigt eindrucksvoll die aktuelle Sonderausstellung im Stadtmuseum Tübingen...
Für viele der heutigen StudentInnen scheinen Proteste zu einem rein museal-historischen Phänomen geworden zu sein. Zunehmender Individualismus, Selbstfixiertheit, Politikverdruss, Wohlstand, aber auch Hilflosigkeit in einer Fülle unüberschaubarer globaler Konflikte führten in den letzten Jahrzehnten – im Vergleich zu den 1960er und 70er Jahren – zu einem Rückgang großer, kollektiver Proteste junger Menschen. Die Protestmärsche gegen den zweiten Golfkrieg bilden eine der Ausnahmen, Occupy und die Anti-Pegida-Demonstrationen womöglich eine Wiederbelebung politischen Engagements.

Mit der Ausstellung „Protest!“ beweisen StudentInnen der Universität Tübingen, dass auch sie ihr Missfallen bekunden
Auch im Lift wird protestiert
können. Denn die Sonderausstellung ist nicht nur Dokumentation vergangener Ab- und Auflehnungen auf den Straßen Tübingens, sondern – und das ist das geniale an dieser Ausstellung – Wegweiser, wie Protest (im Museum) aussehen kann: sie stellt bestehende museale Konventionen und Interpretationsweisen der Geschichte in Frage. Imponierend und klug tut sie dies durch ihre Gestaltung. Sie präsentiert sich nicht in einem separaten Ausstellungsraum, sondern verwendet die ständige Ausstellung über die Stadtgeschichte Tübingens als räumlichen und inhaltlichen Hintergrund: beschriebene Plexiglastafeln hängen vor alten Ölgemälden, Plastikfolien, abgeklebt mit „Protest!“-Streifen, hängen über Büsten und Vitrinen, die Themen sind mit Buchstaben aus weißen Klebestreifen auf dem Boden angekündigt, plötzlich stehen hier und da mitten im Weg Holzpfosten mit bedruckten Plakaten, auf einmal stolpert man fast über einen ausgerollten Schlafsack. Durch diese Streiche entsteht im Handumdrehen die Metaebene.

Es wird nicht willkürlich oder des Protest willens protestiert, sondern in Bezug auf die
Dauerausstellung umgewandelt!
Themen(räume) der ständigen Ausstellung: aus „(Eberhard-Karls-)Universität“ wird „Ernst Bloch Universität“, aus „Oberstadt und Unterstadt“ wird „Besetztes Haus“, aus „Schloss/Stiftskirche“ wird „Repression“, aus „Rathaus“ wird „Mitgestalten“, hinzu kommen „Straße“, „Solidarität“, „Wohnen“ und „Gegenentwürfe“. Interaktive Stationen nehmen nicht in gewohnt distanzierter Formulierung Kontakt zum Besucher auf („Um die Audiosequenz zu hören, können Sie hier den Knopf drücken“), sondern fordern auf und laden dadurch ein: „Film anschauen!“, „Mitnehmen und Rätsel lösen!“ oder „Hinsetzen und mitstricken!“

Auch wenn Originalobjekte mit spannender Provenienz – wie etwa ein privates Protesttagebuch,
IBM Composer ISER von 1981
Strafbefehle, ein Brief an den Kasernenkommandanten, der IBM-Composer ISER der Redaktion des Magazins TÜTE von 1981 – nicht immer gefunden werden konnten, sind die Ideen geistreich und unterhaltsam umgesetzt worden.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese lebendige Ausstellung von Studentinnen und Studenten des Studiengangs „Empirische Kulturwissenschaften“ entworfen und realisiert wurde: Es gehört zum Kern der Volkskunde/Kulturanthropologie die Dinge, die wir als selbstverständlich wahrnehmen, zu hinterfragen. Wenn´s im Museum geht, dann ist auch der Schritt auf die Straße vielleicht nicht mehr weit...

Schön, dass das Stadtmuseum für diese Sonderausstellung tatsächliche Partizipation zugelassen hat!
Altes Stars, neue Stars
Vielleicht kann „Protest!“ als Beispiel dienen, Neukonzeptionen zukünftiger Dauerausstellungen jenseits gewohnter Rückblicke auf Geschichte und Einblicke in die Gesellschaft zu denken. Dazu gehört eine Überarbeitung des Auswahlprozesses bzw. der Auswahlkriterien historischer und gesellschaftlicher Ereignisse, die man beleuchten möchte. Ein weiterer Schritt in diese Richtung wäre, sich von autoritärer Deutungshoheit zu entfernen, den Objekten eine Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit zuzusprechen und den Besuchern Freiraum zur Interpretation und möglicher Identifikation zu lassen. Geschichte und Identität sollen nicht vorgeschrieben, sondern verhandelbar sein bzw. im Plural stehen. Auf diese Weise entstehen Dialoge zwischen Besucher und Exponat und unter den Besuchern; um an Bruno Latour anzuknüpfen: gar unter den Gegenständen selbst. Fazit: Hingehen! - noch bis 5. Juli 2015.

  • Lieblingsexponat? – Der Brief an den Kommandanten der Eberhard-Finck-Kaserne
  • Nachmachen! – Mutig sein
  • Was stört? – zu wenig Originale 
  • Wie hinkommen? – Vom Hbf. zu Fuß in zehn Minuten: den Neckar überqueren und dann bis ins Herz der Altstadt.
  • Charme? – die intellektuelle Frische, mit der die Ausstellung gedacht wurde 
  • Jahreskarte oder Tagesticket? – Das Stadtmuseum präsentiert stets wechselnde Ausstellungen, auch parallel zueinander; ein mehrfacher Besuch lohnt sich. 
  • Was gibt´s noch? – einmal durch die Altstadt irren: zahllose Kneipen und Cafés wie etwa das „Collegium“, der „Jazz-Keller“, der „Blaue Salon“, die „Tangente“; Imbisse und Restaurants: Pommes und Currywurst im legendären „X“, Pizza bei der „Alten Kunst“, Falafel bei der „Kicherebse“; Indie-Kinos wie das „Atelier“, „Arsenal“ oder „Löwen“; in Sommernächten Abhängen auf dem Rathausplatz; Stöbern in zahllosen Antiquariaten und Antiquitätenhandel; den steilen, aber kurzen Weg zum Schloss hochspazieren und und und... 
Altes neu gedacht
Esszimmer einer WG
Dauerausstellung neu gestaltet!



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